Sonntag, 5. September 2010

Adele Addi!

Auf dem Parkplatz vor dem Trierer Rathaus sitzt ein einsamer Mann in seinem grünen, abgewaschenen Bundeswehrparka auf einem so genannten Palestinensertuch, und hält ein Pappschild in die Höhe. Laut skandiert er „Hitler raus!“, was einige Passanten sichtlich irritiert, andere wiederum völlig kalt lässt. Der Mann heißt Alex, ist 23 Jahre jung, Politikstudent aus Berlin, und er ist vor allem Hitler-Hopper.
Hitler-Hopping ist das gezielte Bereisen von Städten, die es sich zum Ziel gesetzt haben, Adolf Hitler posthum zu ächten, indem sie ihm das Ehrenbürgerrecht zu entziehen. Immer noch gibt es in Deutschland hunderte Städte, die Adolf Hitler in der Zeit der Unterwerfung des deutschen Volks durch das Naziregime zum Ehrenbürger ernannten, diesen Schritt aber bisher nicht rückgängig machten. Nun wurde im Zuge der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesländer eine neue Welle losgetreten und viele Städte wollen nun, 65 Jahre nach der Befreiung Deutschlands, Hitler loswerden. So auch Trier, welches bereits im Frühjahr 1933 nach einer flammenden Rede des damaligen Bürgermeisters Heinrich Weitz den einstigen Führer ehrte. Auf Ansinnen des SPD-Politikers Christoph Grimm wurde bereits 1979 der Versuch gestartet, dies wieder rückgängig machen, doch wurde dieses Unterfangen vor allem von der CDU und dem OB Champions League Wagner nach einer sehr emotionalen Debatte („Arschloch“ „Wichser“ „Hurensohn“ um nur einige der damals verwendeten Wörter zu nennen) niedergeschmettert. Hitler sollte bleiben.
„Hitler muss weg!“, ruft Alex, als ein schnauzbärtiger Beamter aus dem Rathaus kommt. Der Mann erschrickt und verschwindet sofort wieder zurück ins Amtsgebäude. So muss er auf seine Zigarettenpause verzichten, was seiner Gesundheit wohl zu Gute kommt. Insgesamt sehen die Bürger Alex Alves Arbeit positiv. Ein junges Mädchen bringt ihm etwas zu essen, und ab und an bekommt er sogar etwas Geld zugesteckt, damit er auch mal zum Frisör könne. Manche Passanten erheben sogar die linke Faust und singen „Bella Ciao“, was Alex allerdings stoisch ignoriert, da er zum einen kein Englisch versteht und zum anderen auch nix mit „Kommunistenpack“ zu tun haben will.
Doch nicht jeder ist mit dem Studenten einer Meinung. Eine mit Einkaufstaschen bepackte Rentnerin pirscht sich an, wedelt drohend mit ihrem Schirm, und beschimpft ihn als Netzbeschmutzer. Er zöge das Volk der Deutschen mit seiner Antihaltung in den Dreck. Ein echter Deutscher tue, was man ihm sage, und verhalte sich niemals auch nur im Ansatz kritisch gegenüber seiner Regierung. Als ihr Alex erklärt, dass eben mit jener Attitüde das dritte Reich und die Shoa erst ermöglicht wurden, entgegnet sie ihm, dass sie und die restlichen Deutschen doch gar nichts von den Lagern gewusst hätten. Scimus nos nihil scire!
Innerhalb der gaffenden Leute, die sich um die alte Frau und den Hitlergegner gesammelt haben, fängt plötzlich ein kleiner Junge an zu weinen. Er versteht das alles nicht, denn er ist ja noch ein Kind. „Warum magst du Hitler nicht? Was hat der Mann dir denn getan?“, plärrt er Alex an, der gewohnt sachlich argumentiert: „Dit war ne janz jemeine Person, Kleener. Der hat die Juden umjebracht.“ Die Rentnerin mischt sich ein: „Welche Juden denn? Ick hab hier noch keene jesehn.“ Bevor sie eine Erklärung darbieten kann, warum sie die Berliner Schnauze assimiliert hat, wird es jedoch hektisch. Die Stimmung ist bereits auf dem Siedepunkt, da kommen plötzlich circa 20 Menschen um die Ecke, trommeln Bongos, und singen. Von „Hitler, du Zigeuner“ über „Hitler, wir wissen wo dein Auto stand“, bis zu „Zieht dem Hitler die Lederstiefel aus“ ist jeder Gassenhauer dabei und es herrscht mittlerweile richtige Stadionatmosphäre.
Die Luft riecht süßlich. Ich frage Alex, ob er wisse, was hier vor sich gehen würde. „Dit sind die Spacken vom ASTA, Alter.“, gibt er zu Antwort. Ich bin kurzzeitig verwirrt, da der ASTA scheinbar auch gegen Hitler ist, und dies Alex ja eigentlich gefallen müsste, doch er erklärt mir, dass die Leute vom ASTA alles andere als cool seien. Sie seien „erlebnisorientiert“, was bedeutet, dass die jungen Menschen angeblich auf Rabatz aus sind.
In der Tat, geht es vielen ASTA-Mitgliedern und Sympathisanten nicht immer um fruchtbare Diskussionen, oder konstruktive Kritik, sondern viel mehr um Aufmerksamkeit. Wenn man jüngsten Studien des Institus für ASTA-Studien in Mainesville/Ohio folgt, leiden über 65% aller Beteiligten einer ASTA-Aktion an ADHS, einer psychischen Störung, die sich durch Probleme mit der Aufmerksamkeit sowie Impulsivität und häufig auch Hyperaktivität auszeichnet.
Alex ist sauer. „Die stehln mir hier komplett die Show, mit den scheiß Trommeln. Wie soll ick denn mit meinem Pappschild jegen ankommn?“, sagt er und packt ein ASTA-Mitglied am Schlafittchen. Er rüttelt den Studenten kräftig durch und sammelt das Kleingeld, das herunterfällt darauf ein. „Fürn kleenes Bier, nachm protestieren.“, murmelt er mir zu und zwinkert keck grinsend. Doch das freche Grinsen des Politikstundenten wird durch eine heranrauschende Faust jäh unterbrochen. Alex taumelt aus einer wild gewordenen Menge von aufgebrachten Studenten heraus und fällt zu Boden. Ich bringe mich in Sicherheit, um aus einer respektablen Distanz zu beobachten, ob der Hitler-Hopper den Kampf gegen die Hitler-Feinde überleben wird.
Die Situation scheint nun komplett außer Kontrolle geraten zu sein. Doch zum Glück öffnen sich die Pforten des Rathauses. Der Stadtrat erscheint, um seine Entscheidung zu verkünden. Hitler ist draußen. Der 2. September sollte der Schicksalstag für den Usurpatoren werden. Hitler ist nicht länger Ehrenbürger Triers.
Jubel. Gellende Schreie. Bunte Fahnen. Der mittlerweile brechend gefüllte Parkplatz vorm Trierer Rathaus ist in Ekstase. Es wird gefeiert, geschunkelt, getanzt. Der Kirchenchor Pallien stimmt kurzerhand das Te Deum an. Einige brechen auf um einen Autokorso zu starten. So etwas hat man zuletzt bei der WM gesehen. Der ASTA boxt sich den Weg nach vorne durch. Eine Hitlerfigur aus Pappmaché in Echtgröße wird aufgestellt. Jeder, der möchte darf ihr ein Mal in den Hintern treten. Oder ein Foto mit der Figur machen; je nach Gusto.
Nach einer guten Stunde leert sich der Platz allmählich. Der ASTA hat einen Demonstrationsmarsch für den Frieden, und für die Menschenrechte, und gegen Homophobie , und gegen George W. Bush, und gegen Atomkraftwerke, und für vegetarische Schnitzel, aber gegen Fastfoodrestaurantketten, und Discounter, und auch gegen Amtsmissbrauch, und sogar gegen Kirschstreusel als Nachspeise beim Stammessen in der Mensa gestartet und zieht trommelnd Richtung Universität, wo gegrillt, getanzt, und gesungen werden soll. We shall overcome.
Auch Alex bricht auf. Enttäuscht darüber, dass der ASTA die Aufmerksamkeit mehr auf sich ziehen konnte als er selbst, geht er Richtung Altstadt, um von dem Geld, das er dem „ASTA-Spasta abjezogen“ hat einen trinken zu gehen. Ich habe keine Lust mich zu beteiligen und wähle mit meinem Handy die Telefonnummer eines Taxiunternehmens. Während ich auf das Taxi warte, komme ich ins Gespräch mit einem Straßenfeger, der auf dem vereinsamten Parkplatz den Unrat beseitigt. Verbittert sagt er: „So is dat in Deutschland. Den Hitler baut Scheiße, und wir uffrechten Deutschen dürfen uffräumen.“

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